Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine haben 300 russische Priester und Diakone einen offenen Brief gegen den Krieg unterzeichnet. Die Mehrheit von ihnen lebt mittlerweile nicht mehr in Russland. Geistliche, die nicht mit der Politik von Patriarch Kirill einverstanden sind, werden suspendiert oder sogar entlassen. Die übrigen sind dazu gezwungen, bei jeder Liturgie das von Patriarchen verfasste Gebet für den Sieg zu lesen – das Gebet "Für das heilige Russland". Jene Geistlichen, die es gewagt haben, in diesem Gebet das Wort "Sieg" durch "Frieden" zu ersetzen, werden von einem kirchlichen Gericht ihrer Weihe beraubt. Auf unserem Blog veröffentlichen wir Artikel und Interviews, die sich mit der aktuellen Situation in der russisch-orthodoxen Kirche auseinandersetzen.
Bereits am sechsten Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine haben 300 Priester und Diakone der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) einen offenen Brief mit der Aufforderung des sofortigen Waffenstillstandes unterzeichnet.
„Wir, die Priester und Diakone der Russisch-Orthodoxen Kirche, appellieren in eigenem Namen an alle, in deren Namen der Bruderkrieg in der Ukraine gestoppt wird, um Versöhnung und einen sofortigen Waffenstillstand. Das Jüngste Gericht wartet auf alle. Keine irdische Autorität, kein Arzt, kein Wächter wird uns vor diesem Gericht schützen. (…) Wir beklagen den Leidensweg, dem unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine unverdientermaßen ausgesetzt sind. (…) Beenden Sie den Krieg“
Einer der Unterzeichner war Vater Dimitry Sobolevskiy, Erzpriester des Erzbistums der orthodoxen russischen Gemeinden in Westeuropa, dessen Zentrum sich in Paris befindet. Wir sprachen mit Vater Dimitry in seiner Gemeinde in Düsseldorf.
Vater Dimitry, der bekannte russische Geistliche, Religionsphilosoph und Patriarch Kirill Kritiker Andrej Kurajew meinte, dass dieser Anti-Kriegs-Brief nur von denen unterzeichnet wurde, die nichts zu befürchten haben und sich ohnehin außerhalb Russlands befinden.
Das ist nicht wahr! Ich kenne persönlich zwei Geistliche in Russland, die ihn unterzeichnet haben. 70 Prozent der Unterzeichner leben in Russland. Das Europäische Parlament verurteilte den Patriarchen Kirill und lobte die Priester, die den Brief verfasst hatten. Das hat in hohen kirchlichen Kreisen noch mehr Ärger ausgelöst; so etwas wird nicht verziehen. Und jetzt werden diese Menschen auf den religiösen TV-Kanälen „Spas“ und „Radonesch“ als „fünfte Kolonne“ bezeichnet.
Was denken Sie, was erwartet die Geistlichen, die gegen den Krieg sind?
Ich gehe nicht davon aus, dass im kirchlichen Umfeld Massenverfolgungen stattfinden werden. Allerdings werden entsprechende Schlüsse gezogen. Im Klartext: jeder von ihnen hat jetzt eine Akte, Informationen werden in einem Ordner abgelegt und bei Bedarf wieder herausgenommen. Ich weiß von Fällen, in denen Priester in die Diözese vorgeladen wurden. Dort hat man ihnen Vorträge über den „Faschismus in der Ukraine“ gehalten. Ich kann bestätigen, dass eine sehr große Zahl von Priestern diesen Krieg nicht unterstützt, um es gelinde auszudrücken. Aber die Menschen sind durch ihre Familien und die Tatsache, dass sie alles verlieren können, gebunden. Schließlich kann ein Priester keinen anderen Beruf ausüben, bestenfalls kann er als Wachmann arbeiten. Junge Priester haben vielleicht noch eine Chance, mit ihrem weltlichen Beruf, wenn sie einen haben, Arbeit zu finden. Stellen Sie sich nun aber einen 45- oder 50-jährigen Priester vor, der seit 20 oder 25 Jahren im Dienst ist. Selbst wenn er eine weltliche Ausbildung hätte, die er in der Sowjetunion erhalten hat, was kann er damit anfangen? Darüber hinaus ist es allen Priestern offiziell verboten, über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Sie müssen so tun, als ob nichts los wäre. Nur offizielle Vertreter der Kirche dürfen sich zu diesem Thema äußern. Es gibt bereits Denunziationen. Ein Priester in der Region Kostroma verlor auf diese Weise seine Gemeinde. In einer Predigt sagte er, dass im Krieg in der Ukraine Menschen sterben. An diesem Gottesdienst nahmen genau zehn Personen teil. Und einer erstattete eine Anzeige bei der Polizei. Um ganz ehrlich zu sein, muss man jedoch sagen, dass es auch Geistliche gibt, die den ….. fanatisch unterstützen. In einer Diözese reiste eine Gruppe von Priestern durch ihre Region und hielt politische Vorträge für die „militärische Spezialoperation“.
In einem Interview mit dem YouTube-Kanal „Schiwoj gwosd“ bezeichnete Lew Gudkow, Leiter des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum (das in Russland als „ausländischer Agent“ eingestuft wird), Patriarch Kirill „einen arglistigen Höfling“.
Nun als Priester kann ich solche Bezeichnungen in Bezug auf den Patriarchen als Person mit einem kirchlichen Amt natürlich nicht gutheißen. Aber ich weiß nicht, warum sich der Patriarch so verhält. Ich denke, es gibt eine Reihe von Faktoren, die dabei eine Rolle spielen. Ich befürchte, dass es für den Kreml ein leichtes Spiel ist, Druck auf ihn auszuüben. Er hat sich also für die Unterstützung der russischen Machthaber entschieden. Die Unzufriedenheit der Geistlichen mit der Politik des derzeitigen Patriarchen ist offensichtlich, unabhängig von ihren politischen Ansichten. Er hat in der Russischen Orthodoxen Kirche eine Machtvertikale aufgebaut, ähnlich wie es Putin im ganzen Land getan hat. Aber die Priester dürfen nicht ständig unter Druck gesetzt und bedroht werden. Dieses System kann nicht lange bestehen. Es ist nicht lebensfähig, weil alles nur pro forma gemacht wird, um den Schein zu wahren.
Lew Gudkow ist der Meinung, dass der Höhepunkt der Unterstützung für die Orthodoxe Kirche in der russischen Gesellschaft überschritten ist und das Vertrauen in sie abnimmt. 75 Prozent der Russen halten sich für gläubig, aber 40 Prozent von ihnen kennen nicht einmal die Grundlagen der Orthodoxie. Das heißt, wir haben es eher mit einem zeremoniellen Glauben zu tun, und die Position der ROK wird mehr und mehr loyal gegenüber der Regierung.
In den Neunzigerjahren hatte die Russisch-orthodoxe Kirche die Chance, eine spirituell vereinigende Kraft zu werden. Sie stand über den politischen Querelen und genoss daher große Autorität in der Gesellschaft. Leider hat sie diese Chance verpasst. Innerhalb Russlands wird sich die Kirche natürlich nicht auflösen, zumindest nicht, solange sie eng mit den Behörden zusammenarbeitet. In Russland wird die Kirche durch dieses Bündnis mit dem Staat geschützt, aber es gibt viele Probleme innerhalb der Kirche. Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Priestern, die sich nicht nur gegen die „militärische Sonderoperation“ aussprechen, sondern auch die in der ROK festgelegten Regeln kritisieren.
Rund 60 Prozent der Ukrainer sind orthodoxe Christen. Sie gehören zwei verschiedenen Kirchen an: der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und der unabhängigen orthodoxen Kirche der Ukraine, die Ende 2018 gegründet wurde. Auf dem Landeskonzil der ukrainisch-orthodoxen Kirche wurde die Trennung vom Moskauer Patriarchat bekannt gegeben, dem die Kirche seit mehr als 300 Jahren unterstellt war. In Kiew wurden Änderungen des Kirchenstatuts angenommen, „die die volle Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche bescheinigen“. Einer der Hauptgründe war die Haltung des Moskauer Patriarchen Kirill zum Krieg in der Ukraine.
Das Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxen Kirche, Metropolit Onufry, wandte sich mehrmals direkt an Patriarch Kirill, mit dem Appel, er soll die Ereignisse beeinflussen. Doch er hat keine Antwort erhalten. Es muss an dieser Stelle gesagt werden, dass einige der ukrainischen Bischöfe gegen die Trennung vom Moskauer Patriarchat waren. Sie forderten die Bewahrung des „Status quo“. Dabei handelte es sich in erster Linie um Bischöfe aus 12 Diözesen in den bereits von Russland besetzten Gebieten, einschließlich der Krim. Unmittelbar nach dem Konzil erklärten sie, dass sie weiterhin unter der geistlichen Autorität des Patriarchen stehen. Ich denke, wir sollten die Weisheit von Onufry anerkennen, der sagte, dass in der gegenwärtigen Situation den Diözesen die Möglichkeit gegeben werden sollte, ihre Wahl zu treffen.
Aber diese zentrifugalen Prozesse sind nicht nur in der Ukraine zu beobachten, sondern in ganz Europa. Alle Gemeinden der russisch-orthodoxen Kirche befinden sich jetzt in einer schwierigen Situation. Denn in Italien, Spanien oder auch in Kanada stammen die meisten Priester aus der Ukraine, auch die Gemeinden sind oft ukrainisch. Viele diskutieren über die Möglichkeit einer Abspaltung vom Moskauer Patriarchat. Sie können sich an andere Gerichtsbarkeiten wenden, zum Beispiel an die ukrainische kanonische Kirche. Zuvor hatte die ukrainische kanonische Kirche nicht das Recht, im Ausland Gemeinden zu eröffnen. Aufgrund des Flüchtlingsstroms beschloss das Konzil jedoch, Gemeinden in Europa zu gründen.
Was glauben Sie, was erwartet die Russische Orthodoxe Kirche in Russland?
Das ist schwer zu sagen. Ich denke, dass wir ein großes Problem auf der allgemeinen orthodoxen Ebene haben. Die katholische Kirche in Italien war so sehr mit dem Mussolini-Regime verbunden, dass sie sich selbst diskreditierte. Die Priester wurden als Kollaborateure des Faschismus angesehen, und beim Anblick eines Pfarrers wechselten die Menschen die Straßenseite. Aber heute ist Italien wieder ein katholisches Land. Auch in Russland sorgte bereits vor dem Februar 2022 die Anwesenheit von Geistlichen mit dem obligatorischen Weihrauchfass bei allen möglichen Anlässen, was absolut groteske Formen annahm, für Irritationen in der Gesellschaft. Die Kirche wurde zu einer staatlichen Behörde, zu einer ideologischen Abteilung des Kremls. Aber Russland wird eines Tages aus der Asche auferstehen, und die geistige Erweckung wird von der Kirche ausgehen. Für mich ist das offensichtlich. Schon immer hat sich die Kirche in Zeiten der Verfolgung erneuert. Mein Traum ist es, dass in Russland eine Regierung zur Macht kommt, die sich allen Religionen gegenüber absolut neutral verhält und sie in keiner Weise unterstützt. Dann wäre die Kirche in einer Situation der Chancengleichheit mit anderen Konfessionen. Ihre Unabhängigkeit ist die einzige Chance zur Erneuerung. Erst dann werden die Menschen aus vollem Herzen in die Kirche gehen. In dem neuen Russland, an das ich glaube, wird es eine erneuerte Kirche geben. Wir werden auf jeden Fall dazu kommen, doch auf dem Weg dahin erwarten uns einige harte Schläge.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS